Editorial im Magazin „kunst und kirche“ Ausgabe 2.2022
Negar Hakim und Marina Döring-Williams
„Interreligiosität“ meint prinzipiell Begegnungen unterschiedlicher Kulturen und Religionen, deren Formen, friedlich oder aggressiv, nicht zuletzt eine Gesellschaft mitdefinieren. Repressive Formen sind u.a. die Vereinnahmungen sakraler Bauten durch Kräfte, die als Zeichen der Überlegenheit ihre eigene Religion in der Sakralarchitektur der unterlegenen manifestieren. So sind unzählige Kirchen das Ergebnis von Umnutzung und consecratio eines antiken Tempels oder einer Synagoge. Jede dieser Transformationen ist gleichzeitig Symbol von Verlust, Erniedrigung und Machtrepräsentation einer selbsternannten Religionshoheit. Beispiele synergetischer Interreligiosität dagegen stellen Simultankirchen wie die Grabeskirche in Jerusalem dar, in der seit Jahrhunderten gleich mehrere christliche Konfessionen Gottesdienst halten, und auch die seit der Reformation in konfessioneller Parität zwischen Katholiken und Protestanten genutzten Sakralräume. Ökumene ist schon lange kein Fremdwort mehr. Der Diskurs um das nicht immer freiwillig stattfindende Interreligiöse ist also nicht neu. Aber Dialog und Experiment um die Potenziale der Orte, in denen beabsichtigt und gezielt interfaith-Begegnungen stattfinden können, stellen in Kunst, Architektur und Städtebau ein noch junges Phänomen dar. Erst seit Kurzem wecken Wettbewerbe und Bauprojekte gerade im Miteinander der drei großen monotheistischen, der abrahamitischen Religionen – Christentum, Islam und Judentum – das öffentliche Interesse. Auch auf internationaler Ebene gewinnen Projekte zum Nebeneinander religiöser Bauten oder zu Räumen für mehrere Religionen unter einem Dach in den pluralistischen Gesellschaften zunehmend an Medienpräsenz.
Momentan sind gleich mehrere Bauprojekte in Planung, in denen die vertretenen Religionen architektonisch und bautypologisch nicht mehr in ihren tradierten Formen realisiert werden – eine Herausforderung für alle Beteiligten. Nicht die einzelnen Religionen und ihr jeweiliger architektonischer Ausdruck stehen im Vordergrund, sondern die interreligiöse Toleranz und die Neuinterpretation der gemeinsamen Schnittmengen ihrer räumlichen und bautypologischen Qualitäten und Nutzungspotenziale. Der bewusste Verzicht auf die charakteristischen Symbole und baulichen Elemente in diesen innovativen Sakralbauten bedeutet keineswegs ein Infragestellen der Religion. Hier soll vielmehr mit einer neutralen Formensprache der Gegenwart ein neuer symbiotischer Bautyp entwickelt werden, ein Spiegel der aktuellen Tendenzen des Sakralen und des Wandels der Gesellschaften. Das ist ein architektonisches Experiment – von der Hoffnung getragen, interreligiöse Begegnungen positiv zu beeinflussen und partnerschaftliche Koexistenz zu fördern. In diesem Sinne tragen auch die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Ausgabe mit ihren wissenschaftlichen Diskursen und Analysen zu diesem Experiment auf breiter Ebene bei, aus planerischer, religions- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive.