Traditionelle Architektur auf Qeshm Island | Persischer Golf, Iran
Qeshm ist die größte Insel im Persischen Golf. Schon in der Antike bekannt und wegen der strategisch günstigen Lage im Laufe der Geschichte von verschiedenen Reichen okkupiert, ist Qeshm heute eine Freihandelszone des iranischen Staatsgebiets.
Die extremen klimatischen Verhältnisse, wechselnd zwischen hohen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit im Sommer, und gemäßigter Witterung in der Wintersaison, haben hier einen spezifischen Bautyp von Hofhäusern entstehen lassen. Besondere Merkmale dieses Bautyps sind ein überproportional großer, vom öffentlichen Raum nicht einsehbarer und meist auf 3 Seiten von Gebäudetrakten begrenzter Hof, in dem sich auch die Stallungen befinden, sowie ein Windturm, der zur Ventilation eines separierten Aufenthaltsraums dient, welcher nur während der heißen Saison benutzt wird.
Die wichtigste ökonomische Grundlage der Bewohner von Qeshm war neben Fischerei und Bootsbau die Ernte von Datteln, was zur Anlage riesiger Dattelpalmgärten mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen und charakteristischen freistehenden „Palmgartenhäusern“ für die Bewirtschaftung führte. Das Ausbleiben von Regenfällen während der letzten Jahre hat mittlerweile die Palmgärten vernichtet. Als aufkeimender Wirtschaftszweig beginnt sich der Tourismus zu entwickeln, der sich allerdings auf die Naturschönheiten der Insel – bizarre Felsformationen und Mangrovenwälder – beschränkt und die regionale Baukultur weitgehend außer Acht lässt.
Im Februar 2015 startete der Fachbereich Baugeschichte-Bauforschung des Instituts für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege eine Studie der vernakulären Architektur auf Qeshm. Mitglieder des Forschungsteams waren Lehrende und Studierende der Disziplinen Architektur, Anthropologie, Soziologie, Restaurierung und Geologie der TU Wien und Universität Wien, sowie Architekturexperten und Architekturstudierende verschiedener iranischer Universitäten, des weiteren die IVAN Cultural Group und Repräsentanten der Qeshm Free Zone Organization. Tatkräftig unterstützt wurde unser Team durch das Cultural Heritage Office und die Ortsvorsteher, welche den Kontakt zu den Dorfbewohnern herstellten, die uns freundlichen Zugang zu ihren Gehöften gewährten und sich für Interviews zur Verfügung stellten.
Den Fokus der Studie bildet einerseits die Dokumentation von Bauweisen und Bauformen, die sich im Lauf vieler Generationen als optimierte Anpassung an die extremen klimatischen Bedingungen entwickelt haben, andererseits die Möglichkeiten, welche unter Berücksichtigung dieser Kenntnisse sich in unserer Zeit der weiter entwickelten Technologien ergeben könnten.
Die im Juni 2016 erschienene Buchpublikation „Traditional Architecture on Qeshm Island / Persian Gulf. With a Field Study in the Villages of Chahu Gharbi and Chahu Sharghi“ (Hg. Andrea Rieger-Jandl und Irene Doubrawa, Wien 2016, IVA-Verlag) fasst die Ergebnisse unserer Studie auf mehreren Ebenen zusammen. So werden etwa die Hofhäuser auf Qeshm in ihren räumlichen Konzepten, den funktionalen Zusammenhängen unter besonderer Berücksichtigung öffentlicher und privater Sphären, der Orientierung, sowie der konstruktiven Charakteristika untersucht; ein besonderes Kapitel wird den Windtürmen in der auf Qeshm charakteristischen Ausführung und Funktion gewidmet. Des Weiteren werden Palmgärten und Palmgartenhäuser dokumentiert, die in früheren Zeiten während der Erntesaison als temporäre Wohnquartiere dienten, heute jedoch dem Verfall preisgegeben sind. Behandelt werden auch die Probleme der Bewässerung und der Wasserhaltung in Zisternen, die auf Qeshm beeindruckende Bauformen entwickelt haben. Einen wesentlichen Teil der Studie stellen Wechselwirkungen von gesellschaftlicher Situation und Architektur dar, welche aus architekturhistorischer wie auch aus sozial- und kulturanthropologischer Sicht beleuchtet werden.
Mit der Dokumentation indigener Baukulturen, die unser Team am Fachbereich Baugeschichte und Bauforschung des Instituts für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege bisher in zahlreichen Regionen Asiens, Ozeaniens und Afrikas durchgeführt hat, bemühen wir uns, das Wissen um Bauweisen, die sich über viele Generationen hindurch aus der Anpassung an klimatische Bedingungen und lokale Materialressourcen in Wechselwirkung mit dem Umfeld gesellschaftlicher Situationen entwickelt haben, zu bewahren. Dieses Wissen stellt eine wesentliche Grundlage dar, auf der unter den veränderten Bedingungen kontemporärer Technologie und Gesellschaft nachhaltige Architektur entstehen kann. Darüber hinaus versuchen wir durch unsere Projekte das Bewusstsein der lokalen Bevölkerung für den Wert eigenständiger Bautraditionen zu stärken, um in einer zunehmend uniformen, globalisierten Welt ein gewisses Maß an Identität zu bewahren.